Frühförderung in Bergregionen – eine Chancengleichheit

    Die Pestalozzi-Stiftung fördert die Ausbildung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus schweizerischen Berggegenden mit Stipendien und Darlehen, damit sie ihr Ausbildungsziel erreichen können. Kürzlich verlieh die Stiftung den Frühförderungspreis an die Kita Lumpazi in Disentis/Mustér. Grund genug mit Erika Andrea, Geschäftsführerin der Pestalozzi-Stiftung, die wertvollen Dienstleistungen zur Chancengleichheit in der Schweiz genauer zu studieren.

    (Bild: Richard Haydon) Mara Danz, Stipendiatin der Pestalozzi-Stiftung: «Das Stipendium der Pestalozzi-Stiftung hat mir vor allem Zeit geschenkt, dafür bin ich dankbar.»

    Mit welchen Gedanken wurde die Pestalozzi-Stiftung 1961 gegründet?
    Erika Andrea: Die Pestalozzi-Stiftung wurde 1961 durch das Auslandschweizer Ehepaar Honegger gegründet mit dem Ziel, Jugendliche und junge Erwachsene aus Schweizer Berg- und Randgebieten in einer finanziell schwierigen Lage bei der Ausbildung zu unterstützen und ihnen den Zugang zu Lehrstellen und Universitäten zu ermöglichen.

    Was hat die Stiftung bis heute schon erreicht?
    Die Pestalozzi-Stiftung hat seit ihrer Gründung 8856 Stipendien bzw. 43,2 Mio. Franken für die Ausbildung Jugendlicher ausgerichtet. Sie hat sich im Schweizer Berggebiet etabliert und ist mit Unterstützung der 50 ehrenamtlich tätigen Vertrauenspersonen in den Bergregionen eine verlässliche Partnerin. Die Stiftung gewährt grundsätzlich Stipendien für die ganze Dauer der Ausbildung. Jedes Jahr ist ein Wiederholungsgesuch zur Prüfung des Anspruchs einzureichen.

    (Bild: zVg) Erika Andrea, Geschäftsführerin der Pestalozzi-Stiftung: «Wir unterstützen die Durchlässigkeit des Schweizer Bildungssystems und ermöglichen Jugendlichen die Passerelle.»

    Die Schweiz gilt als grosses Vorbild weltweit bezüglich dem ausgeklügelten Bildungssystem. Welche Rolle spielt die Pestalozzi-Stiftung dabei?
    Die Pestalozzi-Stiftung gewährt Stipendien für die erste Ausbildung und für die darauf aufbauenden Ausbildungen bis zum Erreichen des Masterdiploms. Damit unterstützt die Pestalozzi-Stiftung die Durchlässigkeit des Schweizer Bildungssystems und ermöglicht Jugendlichen, die sich beispielsweise zuerst für eine Berufslehre entschieden haben, später die BMS, die Passerelle und dann ein Studium auf Universitätsniveau zu absolvieren. Umgekehrt ermöglicht die Stiftung Jugendlichen nach einer gymnasialen Matura eine Berufslehre.

    Wie unterscheiden sich die Familienstrukturen und Bildungssituationen in den Bergebieten von urbanen Gebieten und wie haben sich die Strukturen im Laufe der letzten Jahre entwickelt?
    Im Schweizer Berggebiet gab es im Zeitpunkt der Gründung der Pestalozzi-Stiftung mehr kinderreiche Familien. Heute unterscheiden sich die Familienstrukturen in den Berggebieten kaum von denjenigen in urbanen Gebieten. Die Bildungssituation hingegen ist für Familien im Berggebiet mit grösseren Herausforderungen verbunden. Jugendliche aus einem Berg- oder Randgebiet der Schweiz, die eine Ausbildung ausserhalb ihres Bergtales absolvieren, müssen in der Regel auswärts wohnen. Dadurch entstehen hohe Kosten für Unterkunft, Verpflegung und Reise, die nur teilweise durch öffentliche Stipendien gedeckt sind. Nicht alle Eltern oder Ausbildungsinteressierte sind in der Lage, für zusätzliche Kosten aufzukommen. Jugendlichen, die in einer Stadt bzw. in der Agglomeration aufwachsen, können während ihrer Ausbildung in der Regel zu Hause wohnen.

    Wer erhält ein Stipendium von der Pestalozzi-Stiftung?
    Die Stiftung gewährt Stipendien für anerkannte Ausbildungen subsidiär zum Kanton. Interessierte müssen in einem Schweizer Berggebiet aufgewachsen sein und dort auch die obligatorische Schulzeit absolviert haben. Sie haben beim ersten Gesuch das 30. Altersjahr noch nicht überschritten und sind Schweizer Bürgerinnen und Bürger bzw. haben eine Niederlassungsbewilligung C. Jugendliche unterbreiten im Rahmen des Gesuchs einen Finanzierungsplan. Ein Stipendium wird nur gewährt, wenn ein Fehlbetrag durch Eltern oder Bewerber nicht selber aufgebracht werden kann.

    (Bild: Richard Haydon) David Münger aus Zermatt, Stipendiat: «Medizin hat mich schon früh interessiert und so war meine Studienrichtung schon bald klar.»

    Wie werden die Stipendien finanziert und welche Rolle spielen die Förderkreismitglieder dabei?
    Die Pestalozzi-Stiftung finanziert die Stipendien in erster Linie aus Spenden, Beiträgen der Förderkreismitglieder und aus Legaten sowie aus den Fonds. Der Förderkreis, dem Privatpersonen, Stiftungen sowie Firmen angehören, engagiert sich längerfristig für die Ziele der Pestalozzi-Stiftung. Die Mitglieder leisten jährlich einen Beitrag von mindestens 1000 Franken und machen neben Spenden einen wichtigen Teil der Finanzierung aus. Einmal im Jahr lädt die Pestalozzi-Stiftung die Mitglieder des Förderkreises zu einem gemeinsamen Anlass ein, an dem auch Stipendiaten und Vertrauenspersonen teilnehmen und von ihrer Ausbildung bzw. Arbeit berichten.

    Können Sie ein Beispiel eines erfolgreichen Stipendiaten nennen?
    Uns auf einen erfolgreichen Stipendiaten zu konzentrieren, liegt nicht im Interesse der Stiftung. Im Rahmen unseres Engagements hat die Stiftung vielen Jugendlichen zu einem erfolgreichen Ausbildungsabschluss verholfen. Dankesschreiben auch nach Jahren zeigen erfolgreiche Karrieren.

    Die Basis der Pestalozzi-Stiftung bilden die ehrenamtlichen Vertrauenspersonen. Welche Funktion haben sie inne?
    Die Vertrauenspersonen unterstützen die Jugendlichen bei der Antragsstellung für ein Gesuch und stellen so die Nähe der Stiftung zu den Bergregionen und zu den Familien sicher. Es sind aktuell 50 Vertrauenspersonen ehrenamtlich tätig. Das sind zum Beispiel Lehrpersonen, Schulinspektoren und kantonale Laufbahnberaterinnen und -berater.

    Dieses Jahr wurde bereits zum fünften Mal der Frühförderungspreis der Pestalozzi-Stiftung für Schweizer Bergebiete zusammen mit dem Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz LCH verliehen. Welche Idee steckt hinter dem Förderpreis?
    In den Städten gab es 2011, als der Stiftungszweck der Pestalozzi-Stiftung angepasst wurde, um den Frühförderungspreis für Schweizer Berggebiete verleihen zu können, bereits viele familienergänzende Betreuungsangebote. Das Angebot für Kinder aus Berggebieten war hingegen beschränkt. Mit dem Preis zeichnet die Pestalozzi-Stiftung Projekte mit Vorbildcharakter in Schweizer Berggebieten aus. Die Pestalozzi-Stiftung ist überzeugt, dass für den Lernerfolg der Kinder eine frühe Förderung eine wesentliche Voraussetzung ist und den späteren Übergang zum schulischen Lernen erleichtert.

    Wie beliebt ist dieser Förderpreis respektive erhalten Sie viele Bewerbungen?
    In den 10 Jahren in denen der Frühförderungspreis insgesamt fünf Mal verliehen wurde, haben sich jeweils zwischen 10 und 22 Organisationen für den Frühförderungspreis beworben.

    Wer kann sich bewerben?
    Bewerben können sich öffentliche und private Einrichtungen, die bereits ein Projekt im Bereich Frühförderung, d.h. für Kinder bis Schuleintritt, realisiert haben oder solche, die eine Idee für ein Projekt haben und dieses umsetzen möchten.

    Können Sie uns ein Beispiel nennen von einem erfolgreich ausgezeichneten und umgesetzten Förderprojekt?
    Alle Organisationen, die seit 2013 mit dem Frühförderungspreis ausgezeichnet wurden, sind heute immer noch erfolgreich unterwegs, was wir als einen grossen Erfolg werten. Unter www.fruehfoederungspreis.ch sind alle Preisträger verlinkt.

    Was wünschen Sie sich für Stiftung respektive die jungen Leute aus den Berg- und Randgebieten?
    Die Pestalozzi-Stiftung will weiterhin einen Beitrag zur Chancengleichheit leisten. Dieses Engagement ist, wie auch in der Vergangenheit, nur mit der grosszügigen Unterstützung und der Solidarität der vielen Spenderinnen und Spender möglich. Ihnen gebührt unser grosser Dank. Den Jugendlichen aus Schweizer Berg- und Randregionen wünschen wir, dass sie ihre Bildungswünsche realisieren und dass sie Hilfe in Anspruch nehmen, wenn ein Finanzierungsbedarf dazu notwendig ist.

    Interview: Corinne Remund


    Frühförderungspreis 2022

    Die Pestalozzi-Stiftung verleiht alle zwei Jahre den Frühförderungspreis für Schweizer Berggebiete. Die Ausschreibung richtet sich an öffentliche oder private Einrichtungen, die bereits ein Frühförderungs-Projekt umgesetzt haben oder eine Idee realisieren möchten. Coronabedingt musste die Preisausschreibung 2021 auf 2022 verschoben werden. Am 9. November 2022 wurde der mit 20‘000 dotierte Frühförderungspreis der Pestalozzi-Stiftung für Schweizer Berggebiete an die Kita Lumpazi in Disentis/Mustér verliehen. Eine Organisation, welche mit ihrem professionellen familien- und schulergänzenden Angebot in Disentis/Mustér seit bald zehn Jahren vorbildliche Arbeit leistet. Die Kita Lumpazi arbeitet eng mit dem lokalen Gewerbe und dem Gemeindeverbund zusammen und mit Hilfe eines vom örtlichen Lions Club eingerichteten Fonds erhalten Familien eine finanzielle Unterstützung, die einen Betreuungsplatz nicht (vollständig) selber bezahlen können. Je nach verfügbaren Plätzen können Eltern im Homeoffice ihre Kinder in die Kita bringen. Der Elternrat ist Bindeglied zwischen Kita und Eltern.

    www.pestalozzi-stiftung.ch

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